"Die Schulen kommen ihrem Auftrag nicht nach!"

Die Südwest-Wirtschaft ist sich einig: In der Bildungspolitik läuft fast alles falsch! Über die Konsequenzen diskutierte Econo-Chefredakteur Dirk Werner mit Christoph Münzer, Hauptgeschäftsführer des WVIB, und Thomas Albiez, Hauptgeschäftsführer der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg. Tenor: Es braucht einen Paradigmenwechsel.

 
Foto: Jigal Fichtner für econo
 

Der WVIB hat gemeinsam mit der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg und Südlicher Oberrhein sowie der IG Metall ein sehr kritisches Thesenpapier zur Bildungspolitik im Land veröffentlicht. Dieser Schulterschluss ist ungewöhnlich. Steht es tatsächlich so schlecht um die Bildungspolitik im Land?

Christoph Münzer: Die gefühlte Verschlechterung in der Bildungspolitik hat nichts mit der Politik der vergangenen Jahre zu tun. Es geht den Unterzeichnern also nicht um parteipolitisches Kalkül! Die falschen Weichenstellungen reichen 20, 25 Jahre zurück. Seit dieser Zeit gibt es kein klares Leitbild mehr, alles ist eher Stückwerk, man ändert Bezeichnungen und führt Sachzwänge ins Feld. Aber das große geschlossene Bild, was Bildung erreichen soll, gibt es nicht und das mahnen wir an.

Was wäre ein geschlossenes Bild, das Sie favorisieren würden?

Münzer: Wenn man sich die "alte Welt" mit der klaren Dreiteilung des Schulsystems und seiner Durchlässigkeit anschaut, dann hatten wir ein transparentes und funktionierendes System. Wobei es unbestritten einen Reformbedarf gab! Er wurde aber nicht als Ziel der Reform formuliert und deshalb fand auch keine Prüfung der Ergebnisse statt. Alles war planlos und von Wahlterminen getrieben.

Thomas Albiez: Wir wünschen uns eine Strukturpause für die Bildungspolitik. Das bedeutet: Die Schulen sollen die Chance haben, sich wieder auf den Lehrauftrag zu konzentrieren. Denn die Umstrukturierungen haben die Schulen an den Rand der Leistungsfähigkeit gebracht. Selbst die motiviertesten Schulleiter beklagen inzwischen eine überbordende Bürokratisierung. Aus Sicht der IHK muss man noch einen zweiten wichtigen Punkt ansprechen: Die Unternehmen beklagen seit Jahren einen zunehmenden Nachschulungsbedarf bei Schulabgängern, egal ob in grundlegenden Dingen wie Rechnen, Schreiben, Lesen oder beim So­zialverhalten.

Wer versagt, wenn es solche Defizite gibt

Albiez: Es gibt den gesellschaftlichen Trend zum Wunsch nach höheren Bildungsabschlüssen. Das darf man niemandem verübeln. Dieses Streben nach Höherem braucht eine Gesellschaft. Aber umgekehrt darf man die Jugendlichen nicht überfordern, denn nicht jeder ist fit für ein Studium, aber sehr gut in einer Lehre aufgehoben. Noch eines ist auffallend: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen nimmt ab, das wiederum setzt die Bildungseinrichtungen unter Druck, gefährdet sie sogar in der Existenz. Egal ob Hochschulen oder allgemeinbildende Schulen, viele arbeiten vor diesem Hintergrund an ihrem Ruf. Und das kann Auswirkungen auf die Qualiät der Abschlüsse haben. Man kann den Schulen nicht einmal einen Vorwurf machen, gerade denen im ländlichen Raum. Menschlich ist das nachvollziehbar.

Die Schulen sind also zu lasch und benoten am Ende zu "schülerfreundlich"?


Albiez: Das ist empirisch nicht belegt, aber die Beobachtungen lassen den Schluss zu. Andererseits gibt es inzwischen Schulleiter, die auch den umgekehrten Weg gehen und mit Eltern frühzeitig das Gespräch suchen.


Münzer: Ich formuliere es nicht ganz so vorsichtig: Der Grad, den man mit der Schulausbildung erreicht, ist eine Maßeinheit und hat eine jahrhundertealte Tradi­tion. Dieser Grad soll einen Ausbildungsstand verlässlich messen, auch um eine Vergleichbarkeit herzustellen. Sonst bräuchte man den ganzen Aufwand gar nicht! Es kann nicht sein, dass auf Schule A der Grad dieses aussagt und bei der Schule B jenes. Wir haben inzwischen eine Inflation an Noten, Titeln und Abschlüssen, da blickt kein Mensch mehr durch. Unsere Intelligenz hat sich nachweislich seit Jahrtausenden nicht grundlegend geändert, dennoch sind in den vergangenen zehn Jahren im Schnitt die Abiturnoten um eine ganz Note besser geworden. Das kann doch nicht sein! Die staatlichen Schulen kommen damit ihrem Auftrag nicht nach.

Die Klage über die Notenvergabe ist aber so alt wie die Schule selbst…

Münzer: Das stimmt zwar, dennoch wäre dieser Anstieg des Notendurchschnitts nur mit einem großen genetischen Sprung zu erklären - den haben wir natürlich nicht vollzogen. Gerne gebe ich noch ein Beispiel: Ich habe aktuell ein Bewerbungsgespräch für eine Assistentenstelle geführt. Die Bewerberin hat einen Bachelor-Abschluss! Vor zehn, 20 Jahren wäre man mit einem solchen Abschluss Führungskraft geworden.

Das kann die Bewerberin ja immer noch werden!

Münzer: Natürlich. Dennoch mangelt es schlicht an der Verlässlichkeit und Transparenz der Grade.

Stichwort: Master. Der zugrundeliegende Bologna-Prozess wurde von Verbänden und Kammern forciert. Zudem wurde immer proklamiert, es müssten mehr Leute studieren, um im Wettbewerb zu bestehen. Jetzt wird darüber geklagt?

Albiez: Richtig ist, auch von Seiten der Kammern wurde der Bologna-Prozess unterstützt. Der grundlegende Gedanke, dass junge Leute beispielsweise mehr Auslandserfahrungen sammeln, ist nach wie vor richtig. Und was das Studium angeht: Mehr Studierende - ja, bitte; es müssen aber die richtigen Leute sein, sprich diejenigen, die es am Ende packen.

Woran krankt das Bildungssystem wirklich? Bislang wurde viel über die Symptome gesprochen.


Albiez: Das Grundproblem ist: In der Bildungspolitik fühlt sich jeder als Experte. Wann immer man von außen Ausflüge in die Inhalte anderer Organisationen unternimmt, läuft man Gefahr, sich in Themen einzumischen, zu denen man nicht die nötige Informationstransparenz hat. Für uns als Wirtschaft ist es wichtig zu wissen, was wir von Bildungsabschlüssen erwarten können. Denn nur so besteht für die Verantwortlichen ein Mindestmaß an Planbarkeit. Das Problem eines mit Goodwill erreichten Abschlusses ist ja nur eine Verlagerung der Defizite in die Zukunft. Spätestens im Berufsleben kommt die Wahrheit auf den Tisch! Auch wir kennen aus den Mitgliedsunternehmen das eben beschriebene Problem: Mittlerweile ist es gang und gäbe, dass sich Studienabsolventen mit Bachelor-Abschluss für Stellen bewerben, die eigentlich mit klassischen Ausbildungsberufen abgedeckt sind.

Wie lautet Ihr Fazit?

Albiez: Eine Verkürzung der Schul- und der Studienzeit ist möglich, einheitliche Abschlüsse ebenfalls. Aber: Entscheidend ist nicht die Verpackung, sondern, was inhaltlich hinterlegt ist.

Was stimmt konkret nicht? Soll die Gemeinschaftsschule weg, oder…

Münzer: Ich glaube, dass man ganz viele Ausgestaltungen zum Fliegen bringen kann. Die Lehrer sind intelligente Menschen, die mit unterschiedlichen Bedingungen zurechtkommen. Wichtig ist jetzt tatsächlich aber erst einmal die angesprochene Strukturpause und die Verständigung auf langfristige Ziele. Kein Mensch will Inklusion verbieten oder Eliteclubs fördern. Wir brauchen aber Transparenz und Verlässlichkeit. Leistung muss schlicht messbar sein. Übrigens: Das Prinzip - nicht wie es am Schluss gelebt wurde! - des dreigliedrigen Schulsystems finde ich nicht schlecht, viele Industriekarrieren vom Hauptschulabschluss zur Führungsverantwortung zeigen das. Heute ist das so nicht mehr möglich und das ist schade.


Albiez: Diese Strukturdiskussion, wie viele Glieder das Schulsystem denn haben soll, bringt niemanden weiter. Gerade auf politischer Ebene wird dafür zu viel Zeit vergeudet. Ein wertneutraler Fakt ist: In den 50er-, 60er- bis in die 70er- Jahre gab es wenige Werte-Typisierungen bei Jugendlichen, im Kern Konservative und Progressive, mehr nicht. Das hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch ausdifferenziert. In aktuellen Jugendstudien gibt es einen unheimlichen Strauß an unterschiedlichen Persönlichkeiten und Wertvorstellungen. Dieser Ausdifferenzierung muss man Rechnung tragen. Das müssen die Unternehmen heute schon im Bezug auf Kundenwünsche, das muss aber auch ein Schulsystem leisten. Deshalb braucht es eine Entbürokratisierung, damit man sich wieder den Schülern widmen kann.

Das klingt nach einer immensen Aufgabe, jedem Schülertyp gerecht werden…

Albiez: Man muss es anders sehen: Wir begegnen im Bildungsbereich einer sich komplett wandelnden Welt mit traditionellen Strukturen. Wenn wir dem Bildungsauftrag künftig noch gerecht werden wollen, müssen mehr Ressourcen in die Lehre und deren Ausgestaltung investiert werden. An einer Individualisierung kommt man nicht vorbei - was ausdrücklich nicht bedeuten soll, keinen Gemeinschaftssinn mehr zu vermitteln. Aber natürlich ist eine brave Klasse von damals im Umgang leichter als heutige Jugendliche, die in jungen Jahren schon alles hinterfragen. Aber die Situation ist da, deshalb muss man darauf reagieren. Über diese pädagogischen Inhalte wird leider überhaupt nicht diskutiert, alles dreht sich immer nur um Strukturen und Evaluationen!

Da muss aber schon in der Lehrerausbildung ganz anderes Rüstzeug vermittelt werden?

Albiez: Natürlich, dieser Paradigmenwechsel muss dringend angegangen werden! Übrigens reicht das bis in die duale Ausbildung hinein. Hier sind viele Berufsbilder in die Jahre gekommen und müssen dringend überarbeitet werden. Ich begrüße deshalb, dass die neue Landesregierung im Koalitionsvertrag eine Strukturpause angekündigt hat.

Wobei da nicht klar ist, warum man das in den Koalitionsvertrag geschrieben hat: Weil es dem Frieden dient oder weil es notwendig für das Bildungssystem ist…

Münzer: Also sagen wir es anders: Als Unterzeichner des Thesenpapiers können wir die Landesregierung in diesem Schritt nur ermutigen, egal welchen Hintergrund es hat. Mir ist aber noch etwas anderes wichtig: Bildung ist seit 2500 Jahren eigentlich zeitlos. Junge Leute kommen zusammen und wollen gemeinsam Wissen mehren. Daran hat sich bis heute nichts geändert und das passt auch weiter zu den heutigen Ansprüchen mit Inklusion und Ähnlichem. Es lohnt der Blick nach England: Die englischen Privatschulen wurden vor 130 Jahren von unserem Schulsystem abgekupfert, angelehnt an das Prinzip Trivium und Quadrivium. Dabei geht es um die ganz grundsätzliche Vermittlung von Grundlagen und Werten. Erst wenn diese verinnerlicht sind, lohnt es, an die Spezialisierung zu gehen. Ich befürworte deshalb eine Herausnahme von zu speziellen Lehrinhalten aus dem Stundenplan. Zudem wünsche ich mir mehr Anleitung in kreativem Denken, denn das werden wir in Zukunft mehr denn je benötigen.

Geht das einher mit der Forderung in Ihrem Thesenpapier, Spitzenleistung stärker zu ermöglichen?

Münzer: Ja, Spitzenleistung brauchen wir schließlich auf allen Ebenen vom Handwerk bis zur Forschung. Ein gesunder Wettbewerbsgedanke sollte ebenfalls schon in der Schule gelehrt werden, denn den braucht es schlicht. Es liegt in der Natur des Menschen, Dinge voranzutreiben, sich zu messen, sonst säßen wir noch auf den Bäumen. Damit die Unternehmen die Herausforderungen durch die Digitalisierung bestehen, brauchen sie keine Absolventen, die stromlinienförmig irgendwie durch die Prüfungen gekommen sind. Die Wirtschaft benötigt kreative, solide vorbereite junge Leute, die mit Freude Herausforderungen angehen - auch wenn das pathetisch klingen mag. Dem allen muss man mit Veränderungen in den Strukturen der Lehre gerecht werden, wie es Herr Albiez skizziert hat.

Was passiert nun mit dem Thesenpapier?

Münzer: Wir haben keine Illusionen, dass ein einzelnes Papier zur sofortigen Einsicht bei den Verantwortlichen führen könnte. Dennoch ist es wichtig, immer wieder im Schulterschluss auf die Missstände hinzuweisen. Das werden wir auch bei jeder Gelegenheit tun, das Papier wandert also nicht in die Schublade!

Fakten
"Bildung braucht Berechenbarkeit" ist das Papier überschrieben, mit dem neben dem WVIB, die IHKs Schwarzwald-Baar-Heuberg und Südlicher Oberrhein sowie die IG Metall Freiburg und Lörrach auf Probleme in der Bildungslandschaft hinweisen. Sie fordern darin  unter anderem, Leistung zu fördern, das System transparent zu gestalten und ein Ende mit der "föderalistischen Kleinstaaterei". Dem Vernehmen nach wollte auch Südwestmetall mit drei Untergruppen das Papier unterzeichnen. Am Ende gab es aber wohl aus tarifpolitischen Erwägungen einen Rückzieher.

 

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