Das Dilemma mit Daimler

Sulz oder Nellingen? Daimler will ein Prüfzentrum samt Teststrecke bauen, beide Kommunen liegen gut im Rennen. Doch gegen das Großprojekt regt sich Widerstand

 
 

Sulz/Nellingen. Mit dem Alltag ist es eine eigenartige Sache. Man lernt ihn erst dann zu schätzen, wenn es ihn nicht mehr gibt. Franko Kopp mag es da ähnlich gehen. Kopp ist Bürgermeister der 1889-Einwohner-Gemeinde Nellingen auf der Schwäbischen Alb. Hier oben, 684 Meter über Normalnull, im Nordwesten des Alb-Donau-Kreises, direkt an der A8 Stuttgart–Ulm, ist die Welt noch in Ordnung. Ab und an verkehrt das Albbähnle im Teilort Oppingen, dann dampfen historische Loks über die grünen weiten Wiesen der Alb. Hier gibt es ein Heimatmuseum und ein privates Bauernmuseum. Wenn man sich die klassische schwäbische Idylle malen wollte, Nellingen gäbe das ideale Modell ab. 

 

Mit der Idylle ist es allerdings seit einigen Monaten vorbei. Der Alltag von Bürgermeister Kopp ist es ohnehin. Der Grund: Daimler hat Nellingen entdeckt. Auf der Gemarkung der Gemeinde könnte der Stuttgarter Autobauer ein Prüf- und Technologiezentrum samt Teststrecke bauen. Nellingen ist neben Sulz am Neckar aussichtsreicher Kandidat. Mehr als 100 Millionen Euro wird der Konzern investieren, rund 300 Arbeitsplätze schaffen. Das Problem: Der Flächenbedarf des Projektes ist immens. Rund 200 Hektar veranschlagt Daimler für das gesamte Gelände. Rund 40 Hektar sollen überbaut und versiegelt werden. Proteste sind da programmiert.
Bürgermeister Kopp muss abwägen. Auf der einen Seite der Waage: der Konzern, der nicht nur mit Arbeitsplätzen, sondern auch mit zusätzlichen Einnahmen für die Gemeindekasse lockt. Auf der anderen Seite: die Landwirte, die um ihr Ackerland fürchten, Bürger, denen die Teststrecke zu laut ist.

 

Das Thema kommt Kopp ungelegen. Die Wochen vor den Sommerferien haben es ohnehin in sich, eine Sitzung jagt die nächste. Dazu die Anfeindungen aus der Bürgerschaft, er würde allzusehr das Zünglein an der Waage spielen, heißt: zu sehr mit Daimler sympathisieren. Kopp ist kurz angebunden: „Es gibt nichts Neues“, erklärt er etwas unwirsch. „Lassen Sie uns den Herbst abwarten. Dann entscheidet der Gemeinderat über das Vorhaben.“ Kopp ist einsilbig geworden in den vergangenen Wochen. Das Fernsehen war schon da, Radio und Zeitungen natürlich auch. In Zeiten von Stuttgart 21 machen sich Bürger auf den Barrikaden besonders gut. Soweit ist es in Nellingen noch lange nicht, und doch ist die Idylle aus dem Gleichgewicht geraten.

 

Gerd Hieber kennt diese Probleme. Hieber ist Bürgermeister von Sulz. Auch die Stadt am Neckar mit ihren rund 12?000 Einwohnern ist im Rennen um das Prüfzentrum. Sowohl Sulz als auch Nellingen erfüllen die Vorgaben des Konzerns. Und so ist Hieber seit Monaten auf Tour, um die Werbetrommel zu rühren. Unermüdlich wirbt er für das Projekt, das Sulz neue Chancen eröffnen würde. „Wir haben rund 3300 Arbeitsplätze. Das ist für eine Stadt unserer Größe nicht viel. Andere vergleichbare Kommunen kommen auf gut das Doppelte“, sagt Hieber. 

 

Hiebers Hoffnung: Das Prüfzentrum ist nur der Anfang, wird zum Kristallisationspunkt für das in Sulz mit der Nachbargemeinde Vöhringen geplante interkommunale Gewerbegebiet. Bis zu 1000 Arbeitsplätze könnten so entstehen, sagt der Bürgermeister. Für das finanziell nicht auf Rosen gebettete Sulz ist das Projekt aus ökonomischer Sicht eine Riesenchance. Zudem profitiere der Tourismus, das Prüfzentrum verspreche einen Imagegewinn für die Stadt. Daimler. Der Stern. Das zieht. Und, klar, die Ansiedlung bringt auch Geld in die kommunalen Kassen. „Was wir an Einnahmen erwarten, werde ich nicht öffentlich machen. Aber die Rechnung ist für Sulz schon interessant“, sagt Hieber.

 

Der Bürgermeister weiß bei seinem Werben auch den Regionalverband hinter sich: Die gesamte Region werde nachhaltig profitieren, sagt zum Beispiel Jürgen Guse, Vorsitzender des Gremiums. Der Verband spricht sich bei einer Sitzung Ende Juli fast geschlossen für das Projekt aus. Nur der Grüne Hartmut Hauser enthält sich. 

 

Die Politik votiert also klar für das Projekt. Allerdings reißt das Prüfzentrum auch in Sulz einen tiefen Graben. Die Initiative Pro Mühlbachebene spricht sich vehement gegen die Ansiedlung aus. Werner Grabs ist einer der Sprecher der Initiative. Grabs, der als Unternehmensberater arbeitet, ist ein geduldiger Mann. Aber wenn man ihn auf einen jüngst in den „Stuttgarter Nachrichten“ erschienen Artikel anspricht, dann platzt ihm doch der Kragen. „Die Wutbürger von Sulz“ hat die Zeitung eine große Geschichte über Sulz und das Prüfzentrum überschrieben. Zu viel für Grabs. 

 

„Wir sind keine Wutbürger. Wir sind Sulzer Bürger“, presst Grabs hervor, um dann mit ordentlich Pathos in der Stimme nachzuschieben: „Wenn überhaupt, dann sind  wir Mutbürger.“ 

 

Der Protest soll sachlich bleiben, das ist Grabs und seinen Mitstreitern wichtig. Auf der Website sammeln die Prüfzentrums-Gegner Zahlen, Daten, Fakten, wissenschaftliche Artikel, Zitate von Politikern oder Bilder von anderen Teststrecken. „Die Argumente sprechen eindeutig gegen eine Ansiedlung.“ Grabs führt den Lärm an, der dann nicht nur von der A?81 zu den Sulzer Teilorten dringen würde. Das Prüfzentrum ist nur 600 Meter von einigen Sulzer Teilorten entfernt. Und: „Die Fläche ist das wertvollste Ackerland im Landkreis Rottweil. Es gibt genügend andere Flächen im Land, wo sich Daimler ansiedeln kann.“ Und die Hoffnung, nahe des Prüfzentrums würden sich Zulieferer ansiedeln, mag er ebenfalls nicht teilen. „Zulieferer siedeln sich nur in der Nähe von Produktionsstandorten an, Prüfzentren spielen keine Rolle“, sagt Grabs und führt ein Beispiel an: „Das zeigt der Blick auf die anderen Prüfstrecken wie Boxberg.“ 

 

Boxberg. Dort, in der Nähe von Ulm, betreibt Bosch eine Teststrecke. Auch Daimler hatte den Ort einst für ein Prüfzentrum im Auge, scheitert Anfang der 80er-Jahre aber am Widerstand einiger Bürger. Dabei hatte Daimler einen Großteil der nötigen Flächen bereits aufgekauft, 90 Prozent der Bürger waren für das Prüfzentrum. Drei Landwirte wehrten sich. Das Projekt war gestorben.

 

Lothar Ulsamer ist der Mann beim Daimler, der es dieses Mal besser machen will. Ulsamer ist ein beredter Mann, hat eine Zeit lang im Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung und im Mittelstand gearbeitet, ehe er 1995 zu Daimler kam. Dort arbeitet er heute als Projektleiter für kommunale und föderale Projekte. Ulsamer ist in diesen Tagen oft unterwegs, die A?81 und die A?8 kennt er inzwischen wohl besser als viele andere. Ende Juli ist Renfrizhausen sein Ziel. Im Sulzer Teilort steht wieder eine Bürgerversammlung an. Kritiker und Befürworter werden auch diesmal aufeinander einreden. Ulsamer wirbt geduldig für die Teststrecke. 

 

Der Konzern, der früher Bauvorhaben wie Staatsgeheimnisse gehütet hat, gibt sich offen wie selten. Boxberg schwebt ein wenig über allem. „Wir haben damals zu wenig mit den Bürgern gesprochen“, sagt Ulsamer im Gespräch mit Econo. „Wir brauchen einen anderen Ansatz, einen, der in die heutige Zeit passt. Dieses Mal wollen wir die Bürger so früh wie möglich miteinbeziehen.“ 

 

Ein Fauxpas ist den Daimler-Leuten allerdings schon passiert. Zu Beginn der Diskussion war zunächst von 30 neuen Arbeitsplätzen im Prüfzentrum die Rede. „Man hat uns gefragt, wie viele Menschen nötig sind, um ein Prüfzentrum zu betreiben. Das sind 30. Aber insgesamt werden wir mindestens 300 Arbeitsplätze schaffen“, sagt Ulsamer. Daimler will in Sulz mehr als eine Teststrecke bauen, im Prüfzentrum sollen Assistenzsysteme für die Sicherheit im Straßenverkehr und Antriebssysteme „auf dem Weg zum emissionsfreien Fahren“ weiterentwickelt werden, erklärt eine Präsentation.   

 

Gerd Hieber und Daimler sind mit dem Verlauf der Gespräche bislang zufrieden. Rund 16 Prozent der befragten Grundstücksbesitzer wollen Stand Ende Juli nicht verkaufen. Die Position entscheidet bei der Interpretation der Zahl: Für Hieber sind das gute Zahlen, die für Baden-Württemberg üblich sind. Für Projektgegner hingegen ist das Nein einiger schon das K.-o.-Kriterium fürs Projekt. 

 

Und trotz der Spitzen, die Grabs in Richtung Bürgermeister verteilt, bleibt der Ton in der Diskussion vergleichsweise moderat. Ein Stuttgart 21 im Kleinformat will keine Seite. Das ist auch dem Bürgermeister wichtig. „Die Bürgerschaft beteiligt sich viel intensiver an solchen Prozessen. Das ist der Wandel. Und das ist auch gut so“, sagt Hieber. „Wir gehen offen mit dem Thema um, mit sachlichen Argumenten. Aber wir müssen uns weiterentwickeln. Es darf nicht zum Stillstand kommen.“ 

 

Ende des Jahres will Daimler entscheiden, mit welcher Gemeinde verhandelt wird. In einer der beiden, in Sulz oder in Nellingen, kehrt nach dem Votum auf jeden Fall wieder der Alltag ein. Ohne Daimler.

 

 

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